Famulaturen sind sind Pflichtpraktika für Studenten in den mittleren Semestern. Insgesamt 120 Tage werden verteilt auf verschiedene Blöcke fast nach Wahl. In einem von diesem war ich in der Notaufnahme eines Krankenhauses tätig, gemeinsam mit einem mir bekanntem Arzt.
Viele Maßnahmen führte ich schon selbständig durch, diese wurden selbstverständlich von den Ärzten noch einmal geprüft. Von einer solchen Maßnahme kehrte ich zurück, als ich merkte, dass im Schockraum Betrieb ist. Ich stellte mich an die Tür zu den anderen Studenten. Es lief eine Reanimation. Offensichtlich war die ca. 45jährige Patientin soeben vom Rettungsdienst übergeben worden. Zum ersten Mal sah ich direkt, was wir vorher nur an Puppen geübt hatten. Mein zuständiger Arzt wusste, dass ich in meiner Hilfsorganisation fleißig geübt hatte und holte mich dazu, direkt vorbei an eigentlich (dienst-)älteren Studenten. Ich sollte den Kollegen beim Drücken (Thoraxkompressionen) ablösen, damit dieser sich anderen Aufgaben widmen konnte.
Zum ersten Mal keine Puppe, sondern ein echter menschlicher Körper. Während des Drückens schaute ich der Patientin ins Gesicht, keine Mimik, kein angespannter Muskel. Der Kopf wackelte bei meinen Thoraxkompressionen leblos hin und her, gebremst durch den Tubus und die anhängenden Beatmungsschläuche. Die Patientin war ziemlich adipös, die Arme hingen rechts und links von der Trage herunter. Normalerweise soll man das verhindern, aber aktuell gab es noch wichtigeres zu tun. Bei jeder Kompression berührte der rechte Arm meine Beine. Ein Haufen Gefühle stiegen in mir hoch. So etwas habe ich noch nie mitgemacht, noch nie gesehen. Schnell die Gefühle unterdrücken, für sowas bleibt jetzt keine Zeit. Konzentration auf meine Arbeit. Druckpunkt und -richtung kontrollieren. Die Eindringtiefe stimmt, dazwischen locker lassen, aber nicht die Hände weg nehmen, Tempo halten.
Um mich herum herrschte Aufregung. Den Angaben entnahm ich, dass die Reanimation insgesamt bereits 45 Minuten lief, die Patientin tatsächlich unter laufender Reanimation eingeliefert wurde. Die Chancen stünden schlecht, aber wegen des geringen Alters der Patientin würde man weiter machen, alles versuchen. Der Anästhesie-Oberarzt hinter mir machte irgendeine Bemerkung über mich. Ich dreht kurz den Kopf zu ihm. Aufgeregt und ängstlich fragte ich ihn: „Mache ich etwas falsch?!“ – „Nein“ antwortete er, „mach weiter so, genau so“. Beim Kopf zurück drehen blickte ich kurz auf den EKG-Monitor, die wirren Wellen schwangen in meinem Drück-Rhythmus mit.
Um mich herum weiter Gespräche, jemand holte ein Ultraschall-Gerät. Lauter interessante Sachen, die ich gerne gesehen hätte. Aber ich konzentrierte mich auf meine Arbeit. Eindringtiefe, Tempo, lösen. Gefühlte Ewigkeiten später meldete sich der Oberarzt hinter mir, ich soll mal kurz Pause machen, sein flache Hand als Stopsignal in mein Sichtfeld geschoben.
Ich schaute dahin, wo alle hin schauten, auf das EKG: Ein eigener Rhythmus. Ein Arzt mir gegenüber meldete einen eindeutigen Puls. Die Patientin hatte wieder einen eigenen Kreislauf! Der Oberarzt hinter mir meinte anerkennend: „Sehr gut gemacht, nun lass uns hier weiter machen!“. Seine Mimik zeigte deutlich, dass dies nicht nur daher gesagt war. Beim Weggehen sah ich auch den eigentlich für mich zuständigen Arzt respektvoll nicken.
Nun drangen erneut all die Gefühle auf mich ein. Sie ließen sich nicht mehr zurück drängen. Ich sperrte mich auf einer Toilette ein, dort konnte ich erst einmal grob alles für mich verarbeiten. Meine erste Reanimation – und nach über 45 Minuten schlug das Herz wieder, während ich das Herz komprimierte. Natürlich war mir klar, dass viele Faktoren dafür verantwortlich waren. Aber ich war halt einer davon. Zum ersten Mal hatte ich direkt mitgeholfen, einer Patientin das Leben zu retten. Genau das, wofür wir studieren. Neben den traurigen Gefühlen mischte sich eine Menge Stolz mit.
An dem Abend brauchte ich einiges an Whisky, bevor ich genug Ruhe im Kopf hatte, um zu schlafen. Am nächsten Tag sprach ich mit meinem Arzt aus der Notaufnahme noch einmal darüber. Der Oberarzt der Anästhesie habe gar nicht glauben können, dass dies meine erste Reanimation war. An den verbliebenen Tagen konnte ich deutlich merken, dass mein Ansehen gestiegen war. ich durfte noch mehr alleine, durfte gezielt bei anderen Untersuchungen mitmachen, usw.
Natürlich darf man hier erwähnen, dass ich ziemlich groß bin und dadurch auch sehr viel schwerer als der normale Mensch. Dies macht das Drücken auf den Thorax für mich deutlich leichter. Hier habe ich wirklich einen deutlichen Vorteil gegenüber meinen Kollegen.
Aus dieser Reanimation habe ich viel für mich mitgenommen. Ruhe bewahren trotz Chaos, eindeutige Ansagen, Aufgabenverteilungen. Immer wieder alles kontrollieren. Selbst die Hände als zusätzliches, unterstützendes Kommunikationsmittel verwende ich heute noch. Gelernt habe ich aber auch, dass es aufgeben eigentlich nicht gibt. Erst bei meiner 24. Reanimation (danach habe ich aufgehört zu zählen) war ich der leitende Arzt. Derjenige, der entscheiden musste, die Reanimation erfolglos zu beenden. Mit dieser Entscheidung habe ich mich extrem schwer getan, ich hatte ja eigentlich gelernt, niemals aufzugeben. Noch tagelang beschäftigte ich mich damit, ob diese Entscheidung richtig gewesen war. Diese Patientin wurde zufällig obduziert – wir hätten gar keine Chance gehabt, lautete das für mich subjektiv beruhigende Ergebnis.
Damals, nach meiner ersten Reanimation, habe ich mich wegen meiner Gefühle geschämt. Auch wenn ich mich genügend kannte, um zu wissen, dass beim nächsten Mal alles einfacher wird. Nun, viele Jahre und sehr viele Reanimationen später packen mich immer noch diverse, meist traurige Gefühle nach einer Reanimation. Deutlich weniger als damals. Aber ich will, dass dies so bleibt. Es geht um ein Menschenleben. Und genau diese Gefühle zwingen mich, nach jeder Reanimation darüber nachzudenken, ob wir irgendetwas besser machen können. ob irgendwelche Kleinigkeiten hätten optimaler laufen sollen. Und genau dadurch werde ich immer besser. Perfektion erreichen wir niemals, dafür sind die Herausforderungen jedes Mal zu verschieden. Aber nahezu perfekt zu sein, jedes Mal wieder ein bisschen mehr, nur so läuft der Lernprozess in der Medizin. Und ich weiß von vielen Kollegen, dass es ihnen genau so geht.