Die Definition von regelmäßig

Akutes Abdomen, oder akuter Bauch ist eigentlich die Bezeichnung für plötzlich aufgetretene massive Bauchschmerzen, üblicherweise mit einem Anspannen der Bauchmuskulatur verbunden. Dies ist ein Hinweis auf innere Blutungen und damit ein chirurgischer Notfall. Leider wird von vielen Ärzten und anderem medizinischen Fachpersonal die Bezeichnung für jede, wirklich jede Art von Bauchschmerzen verwendet, was immer wieder zu Verwirrungen führt.

So erging es auch einem 13jährigen Patienten während meiner Famulatur (Praktikum während des Medizinstudiums) in einer Kinderklinik. Die Kinderchirurgen schickten den Patienten schnell zu uns weiter. Der Patient hatte aktuell gar keine Bauchschmerzen, sondern seit zwei Jahren immer wieder stärkste Bauchschmerzen und sollte nun zur Abklärung vorgestellt werden. Die Eltern mussten erst mal beruhigt werden, die Chirurgen hatten den Einweisungsgrund ernst genommen und fuhren erst mal alle Geschütze auf, bis sie merkten, dass es falscher Alarm war. Da also etwas akutes ausgeschlossen war, durfte ich den jungen Mann aufnehmen.

Die Bauchschmerzen habe er nur nachts. Teilweise könne er gar nicht mehr liegen und schlafe im sitzen. Die Hausärztin habe schon alles mögliche probiert, zuletzt die Diagnose einer Zöliakie gestellt. Eine technische Diagnostik (Ultraschall, Endoskopie, …) wurde jedoch nie durchgeführt. Nun esse er seit einem halben Jahr strengste Diät. Erst wurden die Schmerzen besser, seit einigen Wochen wieder schlechter. Eine laktose- und fruktosefreie Ernährung habe nichts gebracht. Ja, er esse regelmäßig und grundsätzlich und nur in Ausnahmen Fertiggerichte oder Fastfood. Die körperliche Untersuchung brachte nichts wegweisendes.

Ich hatte ehrlich gesagt überhaupt keine Idee, was der Patient nun haben könnte. Mein Stationsarzt auch nicht wirklich, was mich wiederum beruhigte. Wir stellten einen Untersuchungsplan auf. Vom der einfachen zur komplizierten, von der schonenden zur invasiven, von der preiswerten zur teuren Untersuchung.

  • Blutuntersuchung inkl. Standardwerte für den Bauch: unauffällig
  • Ultraschall des Bauches: unauffällig
  • Laktose- und Fruktoseintoleranztest: unauffällig

Nichts, wirklich gar nichts auffälliges in den Untersuchungen. Das Einzige Auffällige war, dass der Patient bei uns diese Beschwerden überhaupt nicht hatte und vollkommen problemlos schlief. Wir diskutierten bereits eine Magenspiegelung und die „Weitergabe“ des Patienten in die benachbarte Psychosomatik.

Eines Morgens lief ich am offenen Patientenzimmer vorbei, als einen Mann an der Tür stehen sah. Ich sprach ihn an, es stellte sich heraus, dass er zur Familie dieses Patienten gehörte. Er erzählte, dass er glücklich war, dass endlich mal jemand intensiv nach dem Jungen schauen würde. Des weiteren berichtete er, dass sich der Patient bei uns wohl fühle, er habe neue Freunde gefunden und das Essen sei gut und regelmäßig. – Stop – Wer findet Krankenhausessen gut? Was isst der Kerl sonst? Und was heißt hier regelmäßig? Seine Eltern und er hatten mir doch gesagt, er esse regelmäßig?

Ich hake nach: „Was meinen sie mit regelmäßig essen?“ – „Na auf Frühstück habe er keine Lust. Das Mittagessen in der Schule schmecke ihm nicht. So esse er dann nur Abendessen zu Hause.“ Ich bedanke mich für die Antwort und mache mich auf den Weg weiter zum Stationszimmer.

Dort treffe ich neben meinem Stationsarzt auch den Oberarzt, gemeinsam sprechen wir alle Patienten durch. Bei diesem Patienten angekommen, schlägt der Oberarzt die Magenspiegelung als nächste Maßnahme vor. Ich platze in das Gespräch: „Ich habe die Lösung! Ich weiß was sein Problem ist!“. Die beiden ungläubigen Gesichter musste ich tatsächlich kurz genießen. Keiner der Ärzte hatte eine wirkliche Idee, was der Patient hat, und der Student will es wissen? Ich erklärte dies kurz: „Auf Frühstück hat er keine Lust, das Mittagessen in der Schule schmeckt nicht. Dann haut er sich abends den Bauch voll und geht schlafen – da hätte ich auch Bauchschmerzen!“. Es dauerte einen Moment und einige Nachfragen, bis sich beide einig waren, dass ich recht hatte. Vor allem hatte mein Stationsarzt während einer Visite ja auch nach dem Essen gefragt und „regelmäßig“ – als Antwort bekommen – aber ein mal täglich ist eben auch regelmäßig. Nach einigen intensiven Gesprächen mit dem Patienten und seinen Eltern durfte er als geheilt entlassen werden.

Auch dieser Fall lehrte mich natürlich einiges:

  • Ein akutes Abdomen ist nicht immer ein akutes Abdomen
  • regelmäßig ist relativ, genauer fragen hilft immer
  • Andere Angehörige sind auch eine gute Informationsquelle
  • Bei Hausärzten gilt: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser
  • Der Patient hat erst einmal recht – zumindest subjektiv – bis zum Beweis des Gegenteils. Auch wenn es häufig verdammt schwierig ist.
  • und zuletzt, aber am wichtigsten: Die Anamnese (das Gespräch) ist das wichtigste Instrument der Diagnostik

Insbesondere der letzte Punkt regt mich immer wieder auf. Wie oft habe ich schon vom Hausarzt eingewiesene Patienten direkt aus der Notaufnahme wieder entlassen, wie oft mussten wir schon Untersuchungen „umsonst“ durchführen. Die Vorwürfe der Krankenkassen, wir würden zu viele teure technische Untersuchungen durchführen, sind durchaus berechtigt. Aber diese werden bezahlt. Für das Arzt-Patienten-Gespräch und einfache Untersuchungen gibt es fast gar kein Geld. Dafür bleibt also keine Zeit, weil diese einfach nicht bezahlt wird. Also muss der Hausarzt den Patienten zu teuren Untersuchungen schicken, weil dies die einzige rentable Möglichkeit bleibt, den Patienten zu helfen.

Liebe Krankenkassen, liebe Politiker. Ändert dies. Gebt uns unsere Gesprächszeit mit unseren Patienten zurück. Das ist das allerwichtigste und würde viele Probleme lösen. (Bei Operationen und anderen Themen ist dies ähnlich, da wird es weitere Beiträge geben.)

Bild von silviarita auf Pixabay

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