Ihr Ärzte seid schuld!

Schuldzuweisungen an uns Ärzte gibt es häufig. viel zu häufig. Wir können einfach nicht jeden Wunsch erfüllen, jeden Traum ermöglichen. Und wir kommen auch an unsere Grenzen. Alles geht nicht. Insbesondere dann nicht, wenn unsere Patienten schon nicht auf sich selbst aufpassen.

In der Notaufnahme rufe ich einen Patienten auf. „Ihr seid schuld!“ werde ich begrüßt. Ich habe den Mann noch nie gesehen, also ich bestimmt nicht. Aber mal hören, meistens stellt sich die Sache anders heraus. In der Anamnese erfahre ich folgendes. Dem Patienten stört seine neu aufgetrene Bauchnabelhernie. Deshalb sei er zum Hausarzt gegangen. Diesem fiel das gleiche auf, wie mir: Der Patient trägt eine „bayerische Bierkugel“ vom feinsten vor sich her. Er ist ansonsten nicht gerade schlank, aber auch nicht wirklich dick. Der Bauch sieht aber aus, als wenn er bald Vierlinge gebären würde. Auf dem prallen, weiten Bauch prangt noch eine kleine Halbkugel von knapp 20 cm Durchmesser. Die Bauchnabelhernie, die den Patienten stört. Der dicke Bauch stört ihn nicht so sehr. Auch nicht, dass dieser in den letzten sechs Monaten erst gewachsen ist. Nur die Hernie muss weg, das sei unschön. Der Hausarzt hat korrekterweise ein Ultraschall gemacht und das Ausmaß des Dramas erkannt: Ursache des Bauchumfanges ist ein Aszites (Bauchwasser – Wasser im freien Bauchraum, welches da definitiv nicht hingehört). Auch die Ursache des Bauchwassers findet sich schnell: Eine Leberzirrhose (bindegewebiger Umbau der quasi zerstörten Leber). Dies weiß der Patient bereits. und er meint auch die Ursache der Leberzirrhose zu kennen: Er habe vor einem Jahr eine OP gehabt, dabei habe er zwei Blutkonserven erhalten. Dabei sei er mit Hepatitis angesteckt worden.

Dieser Infektionsweg ist theoretisch möglich, aber äußerst unwahrscheinlich. Komplett unwahrscheinlich und meines Erachtens sogar unmöglich ist jedoch die schnelle Zerstörung der Leber. Das dauert sonst viele Jahre, eher Jahrzehnte. Um den Mann nicht noch mehr aufzuwiegeln, teile ich ihm diese Gedanken erst einmal nicht mit. Ich frage ihn weiter aus, untersuche ihn, und mache selbst eine Ultraschalluntersuchung. Es finden sich keine relevanten Vorerkrankungen oder ähnliches. Nebenbei frage ich nach Zigaretten und Alkohol. Er trinke jeden Tag zwei bis drei Bier und rauche eine Schachtel Zigaretten am Tag.

Er fäßt langsam vertrauen zu mir, weil ich ihn ernst nehme (er ist – unabhängig von der Ursache – ja auch ernsthaft krank). Dass ich seine Vorwürfe ignoriere, gefällt ihm aber nicht so richtig. Beim vierten Mal traue ich mir dann vorsichtig zu antworten. Ich versichere ihm, dass wir dem Verdacht nachgehen werden. Er merkt, dass ich das nicht glaube, was er behauptet, hört mir aber zu. Ich erkläre ihm, dass der Abstand zwischen der Infektion und der Zerstörung der Leber viel zu kurz sei. Ob das Blut infiziert war, kriegen wir nicht heraus, aber ob er eine Hepatitis hat, das läßt sich prüfen. Damit ist er zufrieden, das versteht er. Er fragt auch, woran die Leber sonst kaputt gegangen sein könnte. Ich frage zurück, ob er noch nicht gehört hat, dass Alkohol der Leber schade? Er schaut mich fragend an. Dies ist zumindest sehr viel wahrscheinlicher.

Am nächsten Tag liegt das Laborergebnis vor. Keine Hepatitis. Also war es der Alkohol. Von dem Moment an waren keine Vorwürfe mehr zu hören. Sauer war er nur, dass die Chirurgen seine Herne nicht operierten. (Das macht medizinisch keinen Sinn in dieser Krankheitssituation.)

Der Patient ist einige Monate später übrigens verstorben. An der kaputten Leber.

4 comments

  1. Ja, das ist einfach. Schuld sind immer die Anderen… Dass man selbst viel tun kann, um gesund zu bleiben, das ist Vielen nicht klar. Andersherum ist es aber auch einfacher, Pillen zu schlucken, als Etwas am Lebensstil zu ändern – verkehrte Welt…

    1. Wir unterschätzen die Folgen von Alkohol und Nikotin immer noch dramatisch. Manchmal denke ich nach meiner täglichen Visite nach, wieviel weniger Patienten ich alleine ohne diese beiden Drogen hätte. Nicht selten mehr als 50%, manchmal deutlich mehr sind wegen direkten und indirekten Folgen da. Und nur die wenigsten sehen es ein.

    1. Ja, das geht relativ schnell, gerade im Winter. Das ist Pneumonie-Zeit, und wer bekommt am schnellsten eine Lungenentzündung? Patienten mit Vorschädigungen der Lunge. Zum Beispiel die Raucherkrankheit COPD oder Lungenkrebs. Oder Patienten mit Herzinsuffizienz, bei den sich Wasser in die Lunge zurück staut. Häufige Ursache hier: Herzinfarkte oder Bluthochdruck, beides deutlich durch Nikotin begünstigt. Dazu noch die üblichen Verdächtigen, Bauchspeicheldrüsenentzündung, Leberzirrhose. Oder Patienten, die banalen Krankheit nicht zurecht kommen, weil das Hirn direkt durch Alkohol oder indirekt durch die alkoholbedingte Leberzirrhose kaputt gegangen ist.

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