In einer nicht offiziellen, indirekten und sehr persönlichen Umfrage zwischen angehenden und fertigen Notärzten als auch Rettungsdienstarbeitern ist der „Storchennotfall“ der unbeliebteste. Die meisten haben zu wenig Ahnung. Und die anderen mögen diese Notfälle nicht, weil sie hinterher das Auto schrubben müssen.
Dabei sind die Handlungsanweisungen relativ einfach. Aber wir können halt schlecht üben. Und so traf es auch mich eines Nachts, der Melder geht, Storchennotfall.
Viel Zeit, um mich seelisch und moralisch auf das kommende einzustellen hatte ich nicht. Der Einsatzort war nicht weit weg. Zwei Probleme konnten wir relativ schnell eruieren:
Erstens, die Fruchtblase war geplatzt. Nun muss schnell die Entscheidung her, Geburt zu Hause oder Patientin noch schnell einpacken und in die Geburtsklinik fahren. Es war die zweite Geburt, die geht meistens schneller. Muttermund war bei ein bis zwei Zentimetern, man kann es also noch schaffen. Das zweite Problem relativierte die Frage:
Dreiundzwanzigste Schwangerschaftswoche.
Eine Frühgeburt. Ich habe weder Ausrüstung noch Ahnung, wie ich ein Frühgeborenes unterwegs stabilisieren soll. Die Komplikationsrate ist hoch. Es nicht unwahrscheinlich, dass eine solche Geburt unterwegs für das Kind schlecht enden würde. Also gab es nur eins. Anmeldung auf der ca 20 km entfernten Geburtsklinik, schnell einpacken und Gas geben.
Wir fuhren gerade los, als sich die Geburtsklinik am Telefon meldet: Sie können eine Frühgeburt in der 23. SSW nicht gut versorgen, wir sollen eine andere Klinik anfahren.
Die Universitätsklinik ist ein Stück weiter weg. Wir fahren in diese Richtung. Ich informiere per Telefon die Leitstelle über die Situation. An der Uniklinik gibt es einen Notfallinkubator als auch beim dortigen Rettungsdienst einen Babynotarztwagen. Ich melde an, dass wir beides unter Umständen brauchen können. Auch ein Telefonat mit der zuständigen Frauenärztin folgt, um bereits vorab möglichst viel Informationen in die Klinik zu geben. So können sich die Kollegen besser auf die Situation vorbereiten. Meine Frage, ob ich irgendwas tun kann, um die Wehen zu bremsen, wird verneint.
So schnell haben wir die Strecke zur Uniklinik noch nie geschafft. Zum Glück ist es nachts, die Straßen sind leer. Bei jeder Wehe zähle ich die Abstände mit, sie werden deutlich kürzer. Ich bin froh darüber, eine erfahrene Mutter als Notfallsanitäterin dabei zu haben. Sie tut aktuell mehr für die Patientin als ich es könnte.
Wir erreichen die Klinik fast im letzten Augenblick. Eine Wehe im Auto, die nächste im Fahrstuhl. Ich weigere mich schon, noch einmal unter die Decke zu schauen. Im Kreissaal fehlt meine Gynäkologin. Aber zwei Hebammen stehen da, auch gut. Zwei Sätze Übergabe, werde ich dreist unterbrochen und angeblafft von einer Hebamme: Die Neo (Frühchen-Intensivstation) sei voll, ich hätte vorher anrufen müssen und abklären, ob wir überhaupt anfahren dürfen, sie haben keinen Platz für ein Frühgeborenes. Ich bin total entsetzt – die nächste passende Klinik wäre weit über eine Stunde weit weg, das hätten wir nicht schaffen können. Antworten tut aber die Patientin, die mit ihren Schmerzlauten sich wieder in den Mittelpunkt setzt. Die Hebamme will erst mal gemütlich einen Ultraschall machen und die Patientin in den Untersuchungsraum bringen. Mein Einwand wird von der jetzt eintreffenden Gynäkologin unterstützt. Sie fragt, wann die letzte Wehe war: Draußen im Fahrstuhl. Sie schaut kurz entsetzt und lässt die Patientin direkt in den Kreissaal bringen und die Kinderärzte alarmieren.
Das Letzte, was ich von der Patientin höre: Köpfchen ist zu sehen. Das nächste, was ich sehe, ist ein aufgebrachter Ehemann: Mit dem Geschwisterkind auf dem Arm ist er nur wenige Minuten nach uns da. Mein Fahrer auch. Er habe den Vater unterwegs sogar ausgebremst, aber dieser sei der festen Überzeugung, er dürfe uns im gleichen Tempo hinterher fahren. Ohne Signalanlage, ohne Übung und mit dem Kind im Auto. Genauso überzeugt war der Vater auch davon, dass selbstverständlich sich jemand um das Kind zu kümmern habe, während er zu seiner Frau rein geht.
Kopfschüttelnd verlassen wir die Frauenklinik. Hier war heute mehr als nur ein Schutzengel arbeiten.