Ich betreute auf Station eine ältere Dame, über 90. Im Kopf noch komplett fit, aber der Körper machte ihr sehr zu schaffen. Aufgrund einer ausgeprägten Osteoporse hatte sie mehrere Wirbelkörperfrakturen, die ihr ordentlich Schmerzen bereiteten und ihre Beweglichkeit und Kraft einschränkten.
Osteoporose ist eine Erkrankung des Alters, bei der Knochen langsam „entkalkt“ werden. Diese brechen dann leichter, weshalb Stürze bei älteren Menschen gefährlicher sind. Aber auch ohne Stürze können stark belastete Knochen brechen. Vor allem die Wirbelkörper komprimieren dann stark. Da das Rückenmark durch die Wirbelsäule läuft und beidseits zwischen den Wirbelkörpern Nerven austreten, sind diese Stellen besonders für Quetschungen der Nerven gefährdet – was Lähmungserscheinungen, Empfindungsstörungen und starke Schmerzen auslösen kann.
Die starken Schmerzen waren für unsere Patientin unerträglich geworden, sie konnte sich kaum noch bewegen. Wir erhöhten routiniert bereits vorhandenen Schmerzmittel. Nun waren die Schmerzen zwar besser, aber die Patientin konnte sich wegen der Nebenwirkungen nicht mehr bewegen. Die Müdigkeit als auch Übelkeit machten ihr zu sehr zu schaffen. Wir reduzierten die Schmerzmittel wieder, dann versuchten wir andere Schmerzmittel zu ergänzen. Das Ergebnis war nun: Schmerzen nur besser, Übelkreit und Brechreiz waren nicht mehr erträglich, die Patientin übergab sich mehrfach am Tag. Medikamente gegen Übelkeit konnten dies auch nicht bessern. Da dieser Prozess ja immer ein bis zwei Tage dauert,zeigten sich Patientin und Angehörige nicht gerade erfreut. Wir konnten sie zwar beruhigen und die Situation erklären, aber wirklich zufrieden war niemand – ich auch nicht.
Bei einigen Medikamenten, zum Beispiel Schmerzmittel, aber auch Blutdruckmedikamenten, ist es sinnvoll mehrere Wirkstoffe mit verschiedenen Ansatzpunkten zu kombinieren. Das macht die Einnahme zwar komplizierter, aber mehrere niedrig dosierte Wirkstoffe haben seltener Nebenwirkungen als ein hochdosiertes. Leider ging dieser Plan bei unserer Patientin nicht auf.
Als nächsten Versuch wechselten wir das starke Schmerzmittel komplett und ließen die begleitenden Schmerzmittel weg. Nun änderte sich die Situation: Die Nebenwirkungen ließen nach, die Schmerzen wurden besser. Nun hatten wir aber wegen der fehlenden Nebenwirkungen die Option, dieses Schmerzmittel langsam zu erhöhen. Dies taten wir auch und konnten eine deutliche Besserung erreichen. Gleichzeitig konnten unsere Physiotherapeuten nun mithelfen, die Patientin kam wieder aus dem Bett und konnte wenige Schritte auch alleine laufen. Die Stimmung der Patientin und Familie uns gegenüber wurde ebenso besser – wir hatten einen Therapieerfolg.
Nun stellte sich aber heraus, dass die Patientin durch die Familie nicht weiter versorgt werden konnte. Ein anstehendes Urenkelkind brachte alles durcheinander. Also blieb nur die Lösung über ein Pflegeheim. Nicht gerade zur Freude der Patientin, aber sie verstand die Situation. Bis zum Pflegeheimplatz blieb die Patientin nun bei uns. Eigentlich ging es ihr jeden tag besser, sie konnte sich fast schmerzfrei bewegen, hatte keine Nebenwirkungen. Nur ihre allgemeine Schwäche machte ihr zu schaffen.
Am letzten Tag hatte ich zufällig Oberarztvisite. Mein Oberarzt war natürlich bereits involviert, die Patientin hatte die von der Verwaltung vorgeschriebene Höchstliegedauer von fünf Tagen deutlich überschritten. Wir hatten aber ein gutes Ergebnis nachzuweisen, für den MDK (Der Rechnngsprüfer seitens der Krankenkassen) alles sauber dokumentiert, alle waren glücklich und zufrieden. Unsere Patientin saß am Tisch und löste Kreuzworträtsel. Der Oberarzt erklärte kurz, was wir erreicht hatten und fragte die Patientin, ob dies so stimme. Übel sei ihr nicht mehr, antwortete sie mit schmerzverzogenem Gesicht, aber ihre starken Schmerzen seien überhaupt nicht auszuhalten. Stille. Der Oberarzt guckt mich fragend an, ich gucke überrascht und verständnislos zurück. Wir gucken den Pfleger an, welcher die Achseln zuckt. Nun schauen wir alle die Patientin an, welche nun ein schelmisches Grinsen aufsetzt.
Sie wollte nicht ins Pflegeheim und sie wusste, dass wir sie mit starken Schmerzen nicht gehen lassen würden. Bei uns war es einfach viel besser. Ihr kleiner Streich zum Abschluss war ein größeres Lob, als viele andere es sagen könnten.
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Eine schöne Begebenheit. Vielen Dank
LG Bernhard