Vergiss mein nicht

Mit dementen Patienten haben wir immer wieder zu tun – sowohl in der Klinik als auch im Notarztdienst. In den Ausnahmesituationen bzw. Ortswechseln kommen die Patienten häufig gar nicht mehr zurecht. Das ist für die Angehörigen besonders schwer, aber auch immer wieder für uns. Auch Demente haben Rechte, die gewahrt bleiben müssen. Von einem besonderen Fall berichte ich hier:

Ich werde als Notarzt zu einem Rettungswageneinsatz nachalarmiert, da sich die Lage als unübersichtlich gestaltet und die eigentliche Patientin weigert, mit dem Rettungswagen mitzufahren.

Vor Ort stellt sich folgende Situation dar: Frau M. ist nach einem Schläfchen wach geworden und hat um Hilfe gerufen: Ihr Ex-Mann steht plötzlich in ihrer Wohnung und will nicht gehen. Der Mann stellt die Situation anders dar: Er sei immer noch mit ihr verheiratet und wohne auch mit ihr zusammen. Sie sei dement, eine solche Situation habe es vor ein paar Monaten schon mal gegeben. Er zeigt sogar seinen Personalausweis vor, die gemeldete Adresse ist tatsächlich unser Einsatzort. Die Kollegen vom Rettungsdienst konnten die Situation so weit beruhigen, dass wir uns innen alle im Esszimmer treffen konnten. Die Patientin verneinte jegliche körperliche Beschwerden und es war auch keinerlei Beschwerde offensichtlich. Ich versuchte nun mit Untertützung meines Teams, die Situation zu analysieren. Wer von den beiden hatte denn nun recht? Demente Patienten können durchaus sehr glaubwürdig wirken und ihre Lücken überspielen. Genau deshalb wird häufig eine beginnende Demenz nicht gesehen, teilweise sogar von Angehörigen abgelehnt. Auch hier war die Version der Patientin erst einmal möglich und klang auch glaubwürdig.

Einer unserer wichtigsten Tests ist die Orientiertheit. Weiß unser Gegenüber, wo und wann er ist, versteht er die aktuelle Situation und weiß, wer er selbst ist? Gar nicht so einfach, dass zu erfragen und dabei freundlich im Gespräch zu bleiben. Eine Situation hatte unsere Patientin geschildert. Wer sie ist und wo sie ist, wusste sie auch. Ab zur Zeit: „Welchen Tag haben wir heute?“ fragte ich sie nebenbei. Ihr Mann wollte helfend einspringen, wurde aber von einem meiner Teammitglieder gebremst. „Das weiß ich nicht“ – war die Antwort der Patientin. Wir begannen nun als Team einzeln zu fragen, Jahr, Jahreszeit, Monat, Tag, Wochentag – nichts. „ja wenn ich das wissen will, schaue ich auf meine Fernsehzeitung, dass muss man doch in meinem Alter nicht genau wissen“ – klingt erst mal logisch, getan hat sie es aber nicht. Die Fernsehzeitung lag vor ihr auf dem Tisch. Einen Meter neben ihr stand auch eine große Uhr, so eine moderne mit riesigem LCD-Display, auf dem auch das heute Datum stand. Auch darauf schaute sie nicht. Immer wieder die gleiche ausweichende Antwort. Die Patientin wurde langsam unruhig wegen unserer Fragerei, wir brachen ab, um die Situation zu retten.

Die von dem Ehemann benannte Demenz lehnte die Patientin ebenfalls ab. Ein Kollege hatte auf einem Beistellschrank ein Fläschchen mit Psychopharmaka gefunden. Darauf angesprochen meinte die Patientin, naja, da würde sie immer mal wieder jemand besuchen für ein paar Wochen, das sei dessen. Sie konnte uns zu diesem Unbekannten aber nichts sagen, ebenso nicht, wann dieser das letzte Mal dagewesen sei. Auch den Widerspruch zum erst gesagten, dass sie ja hier seit Jahren alleine lebe, konnte sie nicht aufklären.

Wir hatten damit unseren Verdacht auf Demenz ziemlich sicher. Mit wollte die Patientin auf keinen Fall – die Kollegen dort würden ja immer so komische Fragen stellen. Zum Beispiel nach dem aktuellen Datum. In der Situation die Patientin alleine zu lassen mit dem Ehemann ging auch nicht, laut ihr solle er ja weg, er wohne da gar nicht. Ich musste also eine Zwangseinweisung vorbereiten. Ein Telefonat mit der zuständigen Psychiatrie bestätigte dann auch, dass die Patientin aus dem gleichen Grund schon mal dort gewesen sei. Nun hatte ich genug für eine Zwangseinweisung zusammen.

Statt Zwangsmaßnahmen bis hin zu einem Polizeieinsatz konnten wir die Patientin übrigens mit der Begründung eines anderen medizinischen Problems mitnehmen. Dies wollte sie sowieso mal abklären lassen und wir halfen ihr dabei. Dass wir dafür in die falsche Klinik gefahren sind, hat sie in unserer Anwesenheit nicht mehr realisiert. Nur der Mann musste mit aus der Wohnung raus, er hat auf unsere Bitte hin auch „mitgespielt“.

Demente Patienten zu Hause zu versorgen, hat den Vorteil der bekannten Umgebung. Hier fühlen sie sich sicher, häufig ist die Demenz hier kaum merkbar. Die Angehörigen, die die Patienten versorgen, verdienen aller höchsten Respekt und werden meistens viel zu wenig unterstützt. Aber dass Demente in einem Verwirrtheitszustand genau diese Angehörigen dann angreifen, ob nun körperlich oder wie in diesem Fall seelisch macht es besonders schwer und führt immer wieder zu widersprüchlichen Situationen.

Bild von Hans Braxmeier auf Pixabay

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