Aschenputtels Schuh

Manche Einsätze sind schon merkwürdig: Der Fernseher läuft, es gibt wie so häufig Fußball. Kurz vor Ende bei einem 0:0 unentschieden geht der Melder. Die Begeisterung hält sich in Grenzen, aber beim Einsatzstichwort „bewusstlose Person am Bahnsteig“ sind wir alle sofort darauf konzentriert. Unfälle in Bahn- oder Gleisnähe sind auch für uns gefährlich und bedürfen immer besonderer Aufmerksamkeit. Pol steht deshalb auch auf dem Melder, die Polizei kommt also auch.

Es geht zu einem kleinen dörflichen Bahnhof. Einer der längst geschlossen worden wäre, wenn er nicht an einer Hauptstrecke liegen würde. Die Zugänge sind unübersichtlich und im Dunkeln schwer zu finden. Ein schmaler Weg zwischen zwei Häusern mit Gärten hindurch ist der richtige. Während die Kollegen noch das Material aus dem Auto holen, laufe ich vor, um zu schauen, ob wir überhaupt richtig sind.

Vor dem Bahnsteig sitzt ein Mann, offensichtlich alkoholisiert, aber eindeutig nicht bewusstlos, also eher nicht unser Patient. Ich frage im Vorbeilaufen, ob alles OK wäre, er bestätigt dies. Auf unserem Bahnsteig ist niemand zu sehen. Ich will in die Unterführung runter, warte aber kurz auf den Kollegen nach mir, damit dieser weiß, wo ich hin bin. In diesem Moment meldet sich vom Bahnsteig gegenüber eine Gruppe junger Männer, die gerade dort aus der Unterführung kommen. Sie hätten uns alarmiert, sind jetzt aber los, weil ihr Zug gleich kommt. Es geht um den Mann an der Treppe. Er sei nicht bewusstlos gewesen, aber torkelnd am Bahngleis gewesen, sie hätten Angst gehabt, er fällt gleich auf die Gleise und vor den Zug. Einen Sturz oder so habe es auch nicht gegeben, der Mann habe nur einen stark betrunkenen Eindruck gemacht.

Wir kehren nun zu dem Mann am Fuß der kleinen Treppe zurück. Er sitzt auf der untersten Stufe. Barfuß, die Schuhe vor sich stehend. Die Polizei ist nun auch eingetroffen. Auf unsere Fragen reagiert er, weiß wer er ist und wo er wohnt – ziemlich weit weg. Warum er hier ist, kann er nicht so wirklich erklären. Einer der Polizisten fragt mehr als ich, ich lasse ihm dann auch den Vortritt, ein Notfall liegt nun ja nicht unbedingt vor. Mit der Taschenlampe beleuchte ich den Mann und seine Umgebung etwas, ob Verletzungen oder andere Auffälligkeiten zu sehen sind.

Dabei fällt mein Blick auch auf die Schuhe und ich schaue noch mal hin. Der zweite Polizist bemerkt dies und schaut nun auch auf die Schuhe. Zwei Schuhe. Dunkel, aber verschiedene Farben. Nicht ganz gleich groß und es sind zwei linke Schuhe.

Der Mann ist also nicht alleine hier, es hat sich aber niemand gemeldet und bis auf die jungen Männer von gegenüber war niemand zu sehen. Auf mehrfachen Nachfragen meint der Mann, seine Schwester sei mit da. Wir schauen uns im Team an, die Blicke sagen alle das gleiche: Das ist jetzt nicht Euer Ernst. Ein Notfallsanitäter bleibt beim Patienten und untersucht diesen, die Polizei ruft Verstärkung und dann beginnen wir, die Umgebung abzusuchen. Leuchten in die Gärten, auf die Gleise, in der Unterführung, andere Seite. Zurück zur Straße.

Lauter Jubel ertönt aus einem Haus, es muss ein Tor gefallen sein, von wem, wissen wir nicht.

Wir brechen nach einer Suche der Umgebung wieder ab und treffen uns beim Patienten. Eine zweite Polizeistreife ist nun eingetroffen. Wir besprechen uns. Der Mann ist medizinisch so fit, dass er nichts für den Rettungsdienst ist. Dort lassen geht nicht, da er hier nicht wohnt und betrunken ist. Außerdem ist er ja schon mal beinahe auf die Gleise gefallen. Für eine Ausnüchterungszelle ist er eigentlich auch nicht geeignet, er ist ruhig, nett, nur eben ordentlich betrunken.

Während wir noch darüber debattieren, kommen drei junge Frauen des Weges daher, sichtlich angeheitert. Sie bemerken uns, wünschen von weitem einen guten Abend. Aus der Nähe sehen sie dann auch unseren Patienten. „Mensch, was machst Du denn hier, wir haben Dich schon überall gesucht!“. Der Mann war mit seiner Schwester hier zu Besuch und ist dann wohl von der Party verschwunden. Sie fragen uns, ob alles in Ordnung sei. Wenn sie ihn nach Hause bringen und auf ihn aufpassen, dürfen sie ihn mitnehmen. Im nu helfen sie dem Mann auf, dieser zieht sich einen Schuh an und schlüpft in den falschen Schuh rein.

„Der Schuh?! – Was ist mit dem Schuh?“ wollen wir noch schnell wissen. Ja, er hat sich betrunken einfach einen falschen Schuh angezogen und ist losmarschiert.

„Jetzt haben wir wegen Aschenputtel das Ende vom Fußballspiel verpasst“ meint ein Kollege lachend, während die ersten Handys schon in der Hand sind, um das Spielergebnis raus zu kriegen. Schlecht gelaufen für uns.

Bild von Pezibear auf Pixabay

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